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Digitalisierung betrifft alle

Von Thomas Krüger, Präsident der Bildungszentrale für politische Bildung (bpb)

Bonn | 95 Prozent aller Jugendlichen verfügen über ein Smartphone.[1] Wenn wir von Digitalisierung sprechen, muss uns bewusst sein, dass diese nicht nur unser Arbeitsleben oder bestimmte Berufe und Tätigkeitsfelder betrifft. Im Gegenteil: bereits im Kindesalter[2] treten wir in Kontakt mit Technik, die vor 40 Jahren noch ganze Computerschränke gefüllt hätte und an die nur ausgewiesene Spezialisten herangelassen worden wären.

Wie Fahren ohne Führerschein

Dennoch findet keine systematisierte Vermittlung von digitaler Medienkompetenz für alle statt. Der kindlichen Experimentierfreude ist es zu verdanken, dass die Taschencomputer gerade unter den Jüngeren eine so große Verbreitung erfahren haben. Das birgt riesige Möglichkeiten für die digitale Bildung, welche die Urteils- und Handlungsfähigkeit stärken und kreative Potenziale heben könnte. Der Umgang mit den „erst“ seit einigen Jahren allverfügbaren Technologien muss ein Teil der Grundbildung werden, so wie das Lesen und Schreiben dies mit der allgemeinen Schulpflicht 1763 geworden ist.

 

„Nicht zu früh und nicht zu spät; das Geheimnis von Bildung liegt darin, den richtigen Zeitpunkt zu wählen, die Dinge zu tun.“ Natalia Ginzburg

Welcher Zeitpunkt im Leben eines Menschen der Richtige ist, zeigt die Durchdringung des Alltags: Wenn bereits die Kleinsten die digitale Welt erkunden, dürfen wir nicht bis zur Berufsschule warten, um sie darauf vorzubereiten. Ansonsten fahren unsere Kinder nicht nur „auf Sicht“, sondern es liegen auch Entwicklungschancen brach, deren Erfolge später im Berufsalltag fehlen. Als das größte Hemmnis erweist sich dabei das deutsche Bildungssystem, welches aus verschiedenen Gründen den technologischen Wandel bislang nicht in den Lehrplänen abbilden konnte.

Erstens sind die Lehrkräfte damit beschäftigt, das umfangreiche schulische Curriculum abzuarbeiten, welches in der Sekundarstufe zudem sehr auf dem humboldtschen Bildungsbegriff aus dem 19. Jahrhundert basiert. Nur wenn wir den Mut aufbringen, die Lehrpläne zu entrümpeln, bleibt Raum für neue Inhalte, die angesichts des digitalen Umbruchs dringend integriert werden müssten.

Schiller raus, Snowden rein

Doch zweitens hinkt auch das Lehrpersonal selbst – gezwungenermaßen – der technologischen Entwicklung deutlich hinterher. Wer heute als Lehramtsstudent seinen Abschluss macht, geht voraussichtlich in gut 40 Jahren in Pension, also 2057. Sein letzter Schüler wird je nach Schulform spätestens im Jahr 2044 geboren werden und wiederum bis zum Jahre 2114 arbeiten. Zurückgerechnet kann jemand, der heute in den letzten Zügen seines Arbeitslebens ist, von Lehrern unterrichtet sein, die 1920 ihren Abschluss machten. Es genügt also nicht, Lehrkräfte einmal auszubilden und dann ein Arbeitsleben lang unterrichten zu lassen. Um gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen gerecht zu werden, bedarf es also der beruflichen Weiterbildung auf der einen und der Erwachsenenbildung auf der anderen Seite.

Drittens leidet das deutsche Bildungssystem im OECD-Vergleich unter chronischer Unterfinanzierung, auch weil die Bundesländer zuständig sind und dort das Geld fehlt. Der Bund könnte einspringen, scheitert aber am sogenannten Kooperationsverbot, welches 2006 die im Rahmen der Föderalismusreform neugeordneten Zuständigkeiten absichern sollte. Um jedem Kind unabhängig von Wohnort und Elternhaus dieselbe gute Bildung zu ermöglichen, muss anstelle des Kooperationsverbots eine gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern für das grundständige Bildungssystem ausgehandelt werden, auf dem die berufliche Weiterbildung geeignet aufbauen kann.

Ein simples Mehr an Technik ist nicht die Lösung

Doch es geht nicht vorwiegend darum, mehr Technik an die Schulen zu bringen. Stattdessen müssen wir dazu befähigen, die genutzten Technologien intellektuell zu durchdringen und die Bedingungen des eigenen Handelns und seine ethischen wie gesellschaftlichen Implikationen zu verstehen. Dafür braucht es geeignete und unabhängig evaluierte didaktische Konzepte, die ohne massenhafte Anschaffungen für das bereits jetzt überlastete Bildungssystem auskommen. Die Inhalte und die verwendete Hard- und Software müssen auf offenen und interoperablen Standards aufbauen. Das Ziel muss die Mündigkeit des Einzelnen sein, nicht die Abhängigkeit von privatwirtschaftlichen, zum Teil monopolartigen Strukturen.

[1] JIM-Studie 2016, Basis: 1.200 Befragte im Alter von 12 bis 19 Jahren.

[2] 32 Prozent der sechs- bis 13-Jährigen besitzt ein internetfähiges Smartphone, vgl. KIM-Studie 2016, Basis: 1.229 Haupterzieher sechs- bis 13-jähriger Kinder.

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