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Die Globalisierung schlägt zurück

Prof. Dr. Klaus Dörre

oder: Warum wir uns in einem reichen Land um den gesellschaftlichen
Zusammenhalt sorgen müssen

Von Prof. Dr. Klaus Dörre
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Soziologie, Lehrstuhl für Arbeits-, Wirtschafts- und Industriesoziologie

Lange schien es, als ähnele die Globalisierung jenem Dschagannath-Wagen, der steuerungslos dahinrast und alles zermalmt, was sich ihm in den Weg stellt. Anpassung lautete das Zauberwort für alle Gesellschaften, die zumindest versuchen wollten, die Richtung des Wandels zu beeinflussen. Dafür mussten die Gesellschaften, so jedenfalls die Botschaft der Globalisierungsbefürworter, Opfer bringen: Deregulierung der Finanzmärkte, Agenda 2010, Hartz-Gesetze, Niedriglohnsektor, Rentenreform, Privatisierung von Weiterbildung und vieles andere mehr.
Doch spätestens seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise wissen wir: der Dschagannath-Wagen ist entgleist. In anderen Worten, die Globalisierung ist repulsiv geworden. Das heißt sie erzeugt gegenläufige Wirkungen, die nun auf die verursachenden altindustriellen Zentren zurückschlagen.

Zu diesen Repulsionen gehört die zunehmende Ungleichheit. Während die Ungleichheiten zwischen den Ländern des reichen Nordens und des armen Südens vor allem wegen des raschen Wachstums großer Schwellenländer allmählich abnehmen, wachsen sie innerhalb der nationalen Gesellschaften. Die Bundesrepublik macht keine Ausnahme. Sie gehört inzwischen zu den ungleichsten Gesellschaften der OECD-Welt. 44 Personen verfügen über ein Vermögen, das dem der ärmeren Hälfte der Gesellschaft entspricht. Auch bei den Einkommen zeichnet sich eine deutliche Polarisierung ab. In den beiden Jahr-zehnten vor 2013 haben die untersten vier Dezile der Einkommensbezieher Reallohnverluste hinnehmen müssen. Das deutsche Job-Wunder beruht wesentlich darauf, dass Erwerbslosigkeit mittels Ausdehnung niedrig entlohnter, unsicherer, wenig anerkannter Beschäftigungsverhältnisse zum Verschwinden gebracht wird. Entgegen dem Versprechen der Arbeitsmarktreformen sind eine Million Menschen seit der Einführung von Hartz-IV niemals aus dem Leistungsbezug herausgekommen. Sofern der Sprung aus der Erwerbslosigkeit überhaupt gelingt, sind prekäre Jobs die Dauerperspektive. Die Ungleichheit hat ein solches Ausmaß angenommen, dass sie bei den weniger Begüterten die Bereitschaft zu Investitionen in Bildung und Weiterbildung schwächt. Auf diese Weise werden Ungleichheit und fehlende Aufstiegsperspektiven zur Wachstumsbremse. Wer als Arbeiterkind geboren wird, landet in Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit und trotz durchschnittlich höherer Bildungsabschlüsse bestenfalls dort, wo auch die Eltern bereist waren. Die Bundesrepublik wird wieder zu einer Gesellschaft, in der sich grobe Klassenunterschiede reproduzieren. Es handelt sich allerdings um eine demobilisierte Klassengesellschaft.

Bei der Rückverteilung gesellschaftlichen Reichtums geht es immer auch um (Weiter-)Bildungschancen.
Bildung muss wieder zu einem öffentlichen Gut werden, das für alle erschwingbar ist.

Einerseits nehmen Klassenunterschiede zu, andererseits sind Organisationen und Institutionen, die dies korrigieren könnten, so schwach wie nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte. Unter solchen Bedingungen lassen Ungleichheiten Wettbewerbsklassen entstehen. Klassenbildung vollzieht sich im Modus der Konkurrenz und über die kollektive Abwertung sozialer Gruppen. Die Erfahrung, dass es trotz der längsten Prosperitätsphase seit der Wirtschaftswunder-Zeit nicht mehr für alle und alles reicht, führt dazu, dass der Kampf um Statuserhalt mit dem Mittel des Ressentiments gegen Fluchtmigranten, „Sozialschmarotzer“, „faule Griechen“ oder andere vermeintlich Leistungsunwillige geführt wird. Der völkische Populismus muss diese spontane Tendenz und den mitgeführten Problemrohstoff nur noch aufgreifen und radikalisieren, um sie für seine autoritäre Revolte zu nutzen. Die soziale Frage des 21. Jahrhunderts, so die verführerische Botschaft der Populisten, sei keine der Umverteilung von oben nach unten, sondern eine, die zwischen innen und außen, zwischen nicht integrationswilligen Migranten und Biodeutschen ausgetragen werde. Ungleichheit und Migration, beides Repulsionen der Globalisierung, erzeugen so das Terrain für einen völkischen Populismus, den Jürgen Habermas zurecht als Saatboden für einen neuen Faschismus bezeichnet hat. Wer dem entgegenwirken will, muss dort ansetzen, wo sich die rechtspopulistische Botschaft auf ein Körnchen Wahrheit berufen kann.

Die Globalisierung ist kein unhintergehbarer Sachzwang. Grenzüberschreitende Marktintegration kann nur funktionieren, wenn starke Institutionen die Marktkräfte korrigieren und die Konkurrenz für die schwächsten Gruppen der Gesellschaft zumindest abmildern. Anders gesagt: Ohne Umverteilung von oben nach unten, von den Reichsten zu dem Ärmsten, hat die Globalisierung keine Zukunft. Bei der Rückverteilung gesellschaftlichen Reichtums – denn darum handelt es sich eigentlich – geht es immer auch um (Weiter-)Bildungschancen. Bildung muss wieder zu einem öffentlichen Gut werden, das für alle erschwingbar ist. Das setzt eine gute öffentliche Finanzierung der Bildungs- und Weiterbildungssysteme voraus. Die neue Bundesregierung, die sich zurecht um den gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgt, wäre gut beraten, hier mehr als nur symbolische Zeichen zu setzen.

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